Eine Vorführung von „LA VILLETTE“, ein Film von Gerd Kroske, DDR, 1990 anläßlich der Finissage der Fotoausstellung „Ostkreuz: un Visa pour Paris“
am 16.09.2022 im Institut Français, 10719 Berlin, Kurfürstendamm 21, im Boris-Vian-Saal
von 18:00 Uhr-21:00 Uhr, Eintritt: Frei
Anschließende Podiumsdiskussion mit: Gerd Kroske (Regisseur), Maurice Weiss (Fotograf,OSTKREUZ), Christoph Tannert (Künstlerische Leitung, Künstlerhaus Bethanien), Pascal von Wroblewsky (Sängerin). Moderation : Dominique Treilhou.
Informationen zum Film finden Sie hier.
Für die BERLINER ZEITUNG schrieb Claus Löser am 10.09.2022 über den Film „La Villette“:
Als 200 DDR-Künstler Paris stürmten
„Das Institut français Berlin zeigt das dokumentarische Zeugnis einer einmaligen Aktion: Die Ausstellung „Das andere Deutschland hinter den Mauern“ in Paris.
Der Dichter Comte de Lautréamont schwärmte 1874 in seinen „Gesängen des Maldoror“ von einer „zufälligen Begegnung von Nähmaschine und Regenschirm auf einem Seziertisch“. Als Ende Januar 1990 über 200 ostdeutsche Künstler in Paris einfielen, schien sich diese Prophezeiung zu erfüllen. Die einstige Haupthalle der Schlachthöfe im 19. Arrondissement diente drei Tage lang als Schauplatz für die Ausstellung „L’autre Allemagne hors les murs“, auf der Malerei, Fotografie, Mode, Poesie, Performances und Filme aus der DDR präsentiert wurden.
Dieses „andere Deutschland hinter den Mauern“ muss den Pariser Kunst-Connaisseuren als purer Surrealismus erschienen sein. Zu sehen waren unter anderem Männer mit Masken aus rohem Fleisch (Autoperforationsartisten), todessehnsüchtige und karnevalistische Rockbands (Sandow und AG Geige) oder hechelnde Ausdruckstänzerinnen (Conny Hege). Vom Publikum als Exotenschau wahrgenommen, feierten die lange Zeit in Nischen versteckten Akteure ekstatisch ihre soeben errungene Freiheit. Und dies in der Hauptstadt der künstlerischen Avantgarde! Wie fremd sich die Gäste aus dem Osten und die Gastgeber an der Seine gegenüberstanden, wurde damals im einzigartigen Dokumentarfilm „La Villette“ festgehalten.
Ein völlig utopisch erscheinendes Projekt
Ideengeber der Ausstellung war der unermüdliche Christoph Tannert, Wegbegleiter und Förderer vieler der Auftretenden und Ausstellenden. Im politisch-künstlerischen Kreuz- und Querdenker Maurice Najman (1948-1999) wusste er einen französischen Verbündeten, mit dem er noch zu DDR-Zeiten das damals völlig utopisch erscheinende Projekt entwickelt hatte. Najman, ein entfernter Verwandter von Rosa Luxemburg, hatte sich vorher bereits für Václav Havel eingesetzt, aber auch für Markus Wolf oder den zapatistischen „Subcomandante Marcos“ Sympathien gezeigt. Eine der Stärken des Films besteht darin, dass er die Dissonanzen zwischen den Kuratoren nicht verschweigt.
Personelles Zentrum bildet Jürgen Böttcher alias Strawalde, als Filmemacher bei der Defa vielbeschäftigt, als Maler über Jahre hinweg mit Ausstellungsverbot bestraft. Ihm ist die Euphorie des Moments deutlich ablesbar: Er strotzt vor Vitalität, malt während der Öffnungszeiten ohne Unterlass weiter, tänzelt, lacht, singt. (Wenig später sollte ihn die Desillusion über den Kunstmarkt einholen.) Ursprünglich war er selbst als Regisseur für die filmische Begleitung des Spektakels vorgesehen, doch die Malerei war ihm gerade viel wichtiger. Kurzerhand übergab er die Aufgabe an seinen jungen Kollegen Gerd Kroske.
Kroske ergriff die Chance beim Schopf, ging weit über eine schlichte Beobachtung des Geschehens hinaus. Da es ohnehin unmöglich war, das in nur 72 Stunden abrollende Chaos umfassend zu beschreiben, ging er assoziativ vor, griff einzelne Momente heraus, verband diese mit Alltagsszenen aus Paris sowie mit Ausschnitten aus „Le Sang des bêtes“ von Georges Franju, einem der traurigsten Filme der Welt, gedreht 40 Jahre vorher am selben Ort, als hier täglich tausende Tiere geschlachtet wurden.
„La Villette“, Institut français Berlin, 16. September um 18 Uhr“
Quelle Berliner Zeitung v. 10.09.2022
Für CARGO schrieb Bert Rebhandl am 19.02.2010 über den Film „La Villette“:
„Im Jahr 1990 hatten Künstler der DDR noch einen Begriff davon, was da gerade im Begriff war, aus der Geschichte zu verschwinden: eine „subversive Gegenkultur des Ostens“, eine „randständige“ Kultur, an der sich die Menschen in einer westlichen Metropole wie Paris schnell noch sattsehen wollten. 200 künstlerisch Schaffende wurden 1990 in die ehemaligen Schlachthöfe von La Villette eingeladen, viel Zeit zur Vorbereitung war da nicht. Die Schau hieß L’autre Allemagne hors les murs, das andere Deutschland, ohne Mauern. Christoph Tannert war der Ansprechpartner in der DDR, aus Frankreich hatte sich der linksradikale Journalist Maurice Najman gemeldet, gleich nach dem Fall der Berliner Mauer.
Eine Gruppe von Filmemachern war damals mit der Kamera dabei, daraus entstand ein fünfzigminütiger Dokumentarfilm, für den heute Gerd Kroske (Der Boxprinz als Autor genannt wird. „La Villette“ hat diesen Moment eingefangen, in dem das andere Deutschland nach Paris fuhr, um dort die (hastig aufgebaute) große Bühne zu betreten: Maler, Tänzer, Musiker, Fotografen, eine Gruppe von „Autoperforationsartisten“. Jürgen Böttcher, der sich als Maler Strawalde nennt, ist die prominenteste Figur, er ist in seinem kleinen Atelier zu sehen und malt dann in Paris gleich viel großformatiger und live.
Es ist spannend, die Liste der vertretenen Namen abzugleichen mit der Gegenwart von 2010: Klaus Killisch, Trakia Wendisch, Conny Hege, Michael Brendel, Volker Via Lewandowsky, Volker Henze, Allerleirauh, Helga Paris, Hanns Schimansky, Joachim Damm u.a, … An einer Stelle kommt der französische Kulturminister Jack Lang und lässt sich durch die Ausstellung führen – man sieht, dass hier tatsächlich Systeme aufeinandertreffen. Gerd Kroske griff auf Lautréamonts Gesänge des Maldoror zurück, um IHR Paris zu fassen, ein Paris, das durch das Imaginäre von Literatur und Film geprägt ist (George Franjus Dokumentarfilm über die Schlachthöfe, Le sang des betes, darf nicht fehlen), und das mit dem Prenzlauer Berg verwechselbar wird: Die U2 führt direkt nach Montparnasse.“